1. Aristoteles und die Sieben Zwerge: über das Geschichtenerzählen, von antiken Mythen bis zur Gegenwart

»Ob wir mit zurückhaltendem Vergnügen dem traumähnlichen Hokuspokus eines rotäugigen Medizinmannes im Kongo lauschen oder mit kultiviertem Entzücken fadenscheinige Übersetzungen der Sonette des mystischen Lao-tse lesen; hin und wieder die harte Nuss einer Beweisführung von Aquin knacken, oder plötzlich die erleuchtende Bedeutung eines bizarren Eskimo-Märchens begreifen: es wird immer die eine, ihre Form verändernde, doch erstaunlich beständige Geschichte sein, die wir finden, zusammen mit einer herausfordernden, andauernden Vermutung, dass es mehr zu erfahren gibt, als jemals erlebt oder erzählt werden kann.«1

– Joseph Campbell

Menschen haben seit jeher das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen. Diese werden auf die verschiedensten Arten weitergegeben: mündlich, in Bildern oder Bilderserien, als Texte, Ton oder Bewegtbild. Die verschiedenen Medien, mit denen die Geschichten transportiert werden, stellen einen kulturellen Fortschritt, wie die Entwicklung der Schrift, oder einen technischen Fortschritt, wie den Kinematographen, dar. Doch egal, in welchem Kleid uns eine Geschichte begegnet, die Grundzüge halten sich an ein Schema, das erstaunlicherweise auch kulturübergreifend ist.

Der schweizer Psychiater und Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung geht von einem kollektiven Unbewussten aus, dessen Inhalte er als Archetypen bezeichnet. Im Gegensatz zum persönlichen Unbewussten, das sich in Träumen widerspiegelt, finden sich die Inhalte des kollektiven Unbewussten nach Jungs Lehre in Mythen und Märchen wieder und weisen zeit- und kulturunabhängig große Ähnlichkeiten auf.2

Joseph Campbell arbeitete in seinem Buch The Hero with a Thousand Faces die Grundstruktur von Mythen heraus. Christopher Vogler bediente sich in seinem Buch The Writer´s Journey dieser Vorlage und wendete sie auf die modernen Märchen unserer Zeit an, sprich Star Wars, Casablanca, The Wizard of Oz, Pulp Fiction, und unzählige andere Beispiele. Sehr kurz gefasst überwindet der Protagonist auf seinem Weg durch die Geschichte bestimmte Stufen. Zunächst wird er in seiner normalen Umgebung vorgestellt, aus der er dann in ein Abenteuer gerufen wird. Er ignoriert diesen Ruf jedoch oder widersetzt sich ihm so lange, bis er persönlich in die Geschehnisse involviert ist und so seine Motivation gefunden hat. Daraufhin trifft er seinen »Mentor«, der die Funktion eines Beraters oder Lehrers hat, und überschreitet die erste Schwelle ins Abenteuer. Im weiteren Verlauf trifft er auf Verbündete und Feinde und muß Prüfungen bestehen, bis er zuletzt die »Höhle des Löwen« erreicht, der Ort an dem sich zumindest sein, im größeren Stil aber auch das Schicksal der Menschheit oder des Universums entscheidet. Nun wäre es ja zu einfach, wenn unser Held so leicht triumphieren könnte, ohne hier noch ein letztes Mal zu Boden zu gehen und genau dabei herauszufinden, wie er diese Situation meistern kann. Zuletzt wird er aber die Belohnung für seine Strapazen erhalten, heimkehren und einen Schatz nach Hause bringen.3

Es ist nun wichtig, diese Stufen nicht als absolutes Rezept für gute Geschichten zu betrachten. Es geht hier eher darum, zu zeigen, dass der Handlungsablauf einer Geschichte oft gleiche Elemente beinhaltet – eine Erzählung muss aber nicht schlechter sein, wenn eine oder mehrere der oben genannten Stufen fehlen. Es ist oftmals auch besser, man lässt einige aus, als sie künstlich aufzusetzen. Wer Matrix – Reloaded gesehen hat, weiß was ich damit meine. Weiterhin sind bestimmte oben verwendete Begrifflichkeiten als weiter gefasst zu verstehen. Bei »Held« und »Abenteuer« sollte man nicht nur an Superman denken, auch Al Bundy oder Charly Brown sind Helden, die etwas erleben. Der Mentor muss nicht Obi Wan Kenobi heißen und ein Händchen für Lichtschwerter haben, auch »ein ethischer Code kann ein entpersonifiziertes Anzeichen des Archetypen Mentor sein, der die Taten des Helden lenkt«4. Die »Höhle des Löwen« ist bei allen James Bond Filmen das jeweils zeitgemäß geschmackvoll eingerichtete Hauptquartier des Bösewichts. Vermutlich würde sich der »bekannteste Geheimagent der Welt« aber wesentlich unwohler fühlen, fände er diesen Ort des Grauens in seiner eigenen Psyche. Zuletzt ist der »Schatz« natürlich nicht nur der Heilige Gral aus Indiana Jones and the Last Crusade. Wichtig ist hierbei nur, dass unser Held etwas von der Geschichte mitnimmt. In Roman Polanskis Dance of the Vampires ist der Schatz der Triumph des Professors über die scheinbare Vernichtung der Vampire. Dass er unwissend zwei dieser Geschöpfe in Form seines Gehilfen und dessen Geliebter in die Zivilisation führt, bringt die Parodie zu einem schönen offenen Ende.

Noch lange vor dieser heutigen Auseinandersetzung mit Mythen und dem Handlungsaufbau von Geschichten versuchte Aristoteles der Sache auf den Grund zu kommen, was eine gute Geschichte ausmacht und was nicht. Er selbst hatte nie vor, seine Poetik zu veröffentlichen, und so ist sie eher eine Ansammlung an persönlichen, teils unvollständigen und auch widersprüchlichen Notizen zu dem Thema als ein ausgearbeiteter und leicht verständlicher Text. Auch der Umstand, dass die Aufzeichnungen etwa 2300 Jahre alt sind, trägt zur Eindeutigkeit nicht bei »und bisweilen erbringt auch die gründlichste Untersuchung kein anderes Resultat, als dass Verwirrung herrsche.«5 Dennoch gilt Aristoteles Poetik heute zum mit wichtigsten Werk der Dramaturgie. Er behandelt darin hauptsächlich die Tragödie. Seine Aufzeichnungen über die Komödie und die Untersuchung des Lächerlichen, die vermutlich der zweite Teil der Poetik waren, gingen verloren.6 Komödie und Tragödie überschneiden sich dennoch in vielen Punkten. Aristoteles spricht etwa von einem »charakteristischen Vergnügen«, das dem Publikum beim Betrachten eines Stückes bereitet wird, und versucht herauszuarbeiten, was dieses Vergnügen ausmacht und wie man es herbeiführen kann.7

Insofern die heutige Interpretation des Textes zutrifft, kommt er zu dem Schluss, dass wichtige Bestandteile einer Tragödie Eleos, Phobos und Katharsis, oder zu Deutsch Furcht, Mitleid und Reinigung sind. Nach Aristoteles ist die Furcht die Erwartung einer direkt bevorstehenden Katastrophe und beinhaltet auch die Hoffnung, sich durch gezieltes Handeln zu retten. Diese Furcht und Hoffnung haben die in der Geschichte handelnden Personen. Das Publikum verfolgt die Entwicklungen von der Sicherheit des Zuschauerraumes aus. Damit die Emotionen auf die Zuseher überspringen bedarf es des Mitleids. Aristoteles betrachtet Mitleid als eine Reaktion auf unverdientes Leid, das jemandem, aber nicht mir selbst, zustößt, im Gegensatz zu Furcht, die durch Ereignisse hervorgerufen wird, die tatsächlich mir widerfahren. Wer selbst Furcht hat, hat keine Zeit, andere zu bemitleiden, aber wer Mitleid hat denkt sich auch: »Hey, das könnte mir auch passieren! Das könnte ich sein!« Wenn eine Geschichte diese Reaktion auslösen kann, ist die Emotion auf die Zuseher übergesprungen. Dann nehmen sie die Rolle des Helden ein und sie werden bis zum Ende der Vorstellung gebannt an die Kinosessel gefesselt bleiben und bestenfalls sogar ihr Popcorn vergessen. Denn wer kümmert sich um Popcorn, wenn man gerade dabei ist, das Universum zu retten?8

Nun geht Aristoteles davon aus, dass man Mitleid nur für eine moralisch gute Person empfindet.9 Dies sollte man nun nicht falsch verstehen, sonst wären unsere Helden ausschließlich makellos saubere Figuren und außer Tom Hanks wären alle Hollywoodschauspieler arbeitslos. Am besten erklärt sich das mit einem Beispiel. Nehmen wir mal eine moralisch absolut verwerfliche Person. In Leon – The Professional spielt Jean Reno einen kaltblütigen Killer, der ohne mit der Wimper zu zucken und ohne irgendetwas zu hinterfragen Menschen umbringt. OK, die Opfer sind vielleicht nicht immer Sympathieträger, aber dass auch kleine Drogendealer dran glauben müssen, er ja damit rechnen kann, dass er sich mal in der Wohnungstüre irren könnte oder auf eine andere Art ein Unschuldiger umkommt, und dass Selbstjustiz nicht das Beste aller Rechtssysteme ist, darüber denkt er einfach nicht nach. Als ob das noch nicht genug wäre, bildet er auch noch ein minderjähriges Mädchen zur Killerin aus. Das Maß der unmoralischen Handlungen ist also schon lange übergelaufen! Aber warum, zum Teufel, finden wir Leon so sympathisch und warum sind wir traurig, dass er stirbt? Weil er nicht nur der Killer ist. Wir lernen ihn kennen, seine Stärken, seine Schwächen, seine Vorlieben, seine Abneigungen. »Er ist so menschlich! Er ist wie wir!« Die Zuseher identifizieren sich mit der Figur. Hätte man einen beliebigen seiner Widersacher als Hauptperson gewählt und dessen Leben statt Leons beleuchtet, würde sich das Publikum mit einer anderen Person identifizieren. Dann wäre Leon tatsächlich der grausame Killer. So aber identifizieren wir uns mit ihm und entwickeln Sympathie. Ab diesem Moment stehen wir auf seiner Seite und hoffen, dass er seine Gegner besiegen wird. Wir haben Spaß an dem Film, oder zumindest haben wir uns nicht gelangweilt und es war »ein toller Abend«. Ich denke, es ist sehr interessant, dass wir für zwei Stunden unsere moralischen Werte auf den Kopf gestellt haben, und vermutlich ist uns das dann noch nicht einmal aufgefallen.

Aber zurück zum Thema. In seinem Buch Aristoteles in Hollywood legt der Autor Ari Hiltunen die Poetik für unser modernes Drama, den Film, aus. Er meint Aristoteles wollte einfach sagen, »dass eine Handlung auf eine solche Weise konstruiert sein muss, dass sie möglichst viel Mitleid und Furcht weckt. Von diesen Emotionen hat das Stück den Zuschauer dann auf eine Weise zu befreien, die Vergnügen erzeugt. Das ist die Katharsis.«10 Mit anderen Worten: Wenn das Publikum angespannt der Geschichte folgt, und zwar am besten physisch und psychisch, und am Ende das Problem gelöst wird, so entwickelt sich durch die Änderung des Spannungszustandes ein Lustgefühl.11 Oder: Erleichterung ist angenehm. Das bedeutet nicht, dass eine gute Geschichte zwingend ein Happy End haben muss, gemeint ist wirklich nur, dass die Spannung abfällt, und das kann sich neben Zufriedenheit auch durchaus in Trauer ausdrücken. In Die weiße Rose begeben sich die Mitglieder der Widerstandsgruppe für ihre moralischen Werte in eine ständig präsente Lebensgefahr. Sie wissen, wenn sie vom Naziregime entdeckt werden, dann werden sie nicht am Leben bleiben. Als sie am Ende (im Film: Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst) doch gefasst und hingerichtet werden, fällt diese dauernde Spannung ab und macht Platz für Trauer.

Nach Ari Hiltunen folgt aus den in Aristoteles Poetik so wichtigen Begriffen Eleos, Phobos und Katharsis der Handlungsablauf: Die Ereignisse einer Geschichte »haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, das heißt, es existiert eine Struktur aus Motiv, Absicht und Ziel.«12 An diesem Punkt sind wir dann wieder bei Joseph Campbells Reise des Helden angelangt: Wenn die Hauptperson seine Motivation zum Handeln gefunden hat, alle Gefahren und die letzte Prüfung in der »Höhle des Löwen« hinter sich gebracht hat, dann ist die Geschichte bei ihrem Ende angelangt und das Publikum empfindet das Aristotelische »charakteristische Vergnügen«. Oder auch nicht. Denn der Handlungsablauf ist nicht alleine verantwortlich für eine erfolgreiche Geschichte. Besonders ein Punkt wird Aristoteles in diesem Zusammenhang als grundsätzlicher Irrtum vorgeworfen. Er schreibt, es könne »ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen, wohl aber ohne Charaktere.«13 Damit ordnet er die Charaktere in ihrer Wichtigkeit dem Handlungsablauf weit unter.14 Ob Tragödie oder Komödie, Charaktere sind unerläßlich und mindestens ebenso entscheidend für eine funktionierende Story wie die Handlung.