2. Künstliches Leben: die Geschichte der Animation

»Die Kunst der Animation ist die Erschaffung von Bewegtbildern durch die Verwendung aller technischer Formen außer Live Action Methoden.«15

– Association Internationale du Film d´Animation (ASIFA)

Der Spielraum dieser Definition ist gewaltig groß. Abgesehen also von Live Action ist alles gestattet und nur das Visuelle und die Zeitbezogenheit sind wichtige Kriterien für eine Animation. Nimmt man das wörtlich, dann geht ein Bild, das zwei zeitlich versetzte Zustände darstellt, als Animation durch. Und dann ist man schon ganz schnell bei Höhlenmalereien, Comics und Gebrauchsanweisungen. Und bei dem Problem, dass man bei Definitionen immer sehr schnell vom Hundertsten ins Tausendste kommt.

Höhlenmalerei Comic Gebrauchsanweisung

Zeitlich versetzte Zustände in einem Bild: Höhlenmalerei, Comic und Gebrauchsanweisung.

Ich schließe nun also Comics und Höhlenmalerei aus und begebe mich in das Jahr 1600 vor Christus. Wir befinden uns in Ägypten. Damals ließ der Pharao Ramses II. einen Tempel für die Göttin Isis errichten. Auf den 110 Säulen war die Göttin abgebildet, wobei sie von Säule zu Säule schrittweise die Position änderte. Für passierende Reiter entstand so der Eindruck, die Figur würde sich bewegen. Derselbe optische Trick wurde wiederholt, als versucht wurde, an U-Bahnschächten Bildfolgen anzubringen, so dass durch die Bewegung der Bahn die Illusion entsteht, dass ein Werbefilm an der Tunnelwand abläuft. Der Film steht also still und die Betrachter bewegen sich. Soweit ich weiß, hat sich das System bis heute, vermutlich aus Kostengründen, nicht durchgesetzt.

Isis Isis Isis

Nach den Ägyptern zeichneten die alten Griechen meist sportliche Bewegungsabläufe auf Töpfe und Vasen. Ein schnelles Drehen der Behälter erzeugt eine scheinbare Bewegung Es handelt sich hierbei um die ersten Walkcycle (siehe S. 153), wie sie auch heute in Animationen verwendet werden.16

griechische Vase mit Bewegungsablauf

Einige Jahrhunderte später, im Jahr 1640, projizierte Athonasius Kircher mit der von ihm entwickelten Laterna Magica Bilder auf eine Wand, die auf Glas gezeichnet waren. Um eine Bewegung zu erzeugen, verwendete er für einzelne Figuren verschiedene Glasstücke, die er dann mit Hilfe von Schnüren bewegte. Einem schlafenden Mann etwa lief jedesmal eine Ratte in den Mund, wenn dieser ihn öffnete.

Laterna Magica

1824 entdeckte Peter Mark Roget die Trägheit des Auges. Das menschliche Auge behält die Bilder, die auf der Netzhaut eintreffen, für eine kurze Zeit. Nach diesem physiologischen Prinzip funktionieren Film und Fernsehen und nur so ist es möglich, verschiedene aufeinanderfolgende Bilder als fließende Bewegung wahrzunehmen und nicht als rasch wechselnde Einzelbilder. Dieser Erkenntnis folgten viele Erfindungen, die versuchten die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Sie tragen futuristische Namen wie Thaumatrop, Phenakistoskop, Zoetrop (1867) oder Praxinoskop (1877). Das Thaumatrop bringt auch heute noch viele Gesichter zum Staunen, denn man findet es wohl in jedem Spielwarengeschäft im Junior-Zauberkasten: Auf einem Stück Karton oder Plastik, an dem eine Schnur oder ein Stab angebracht ist, befindet sich auf der einen Seite ein Vogel und auf der anderen ein leerer Käfig. Bei einer schnellen Drehbewegung verschmelzen die Bilder scheinbar und der Vogel scheint sich in dem Käfig zu befinden.

Thaumatrop

Eine Erfindung von 1886 kennt auch heute noch jedes Kind: Das Daumenkino funktioniert ebenfalls nach dem Gesetz der Trägheit des Auges. Neben seinen etwa 2000 anderen Patenten spielte der Erfinder Thomas Edison auch eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Animation. 1896 traf er auf James Stuart, einen Zeitungscartoonisten, und Edison ließ sich von ihm später 3000 Zeichnungen anfertigen, die Bewegungsabläufe darstellten. Er fotografierte diese und zeigte 1906 den Film Humorous Phases of Funny Faces und darf sich so auch den Vater des Animationsfilms nennen.17

Humorous Phases of Funny Faces

Der nächste wichtige Schritt in der Geschichte der Animation war 1914. Winsor McCay, der wie Stuart ebenfalls Zeitungscartoonist war, führte der Öffentlichkeit seine Animation Gertie the Dinosaur vor. Durch geschicktes Timing interagiert McCay selbst als Realperson mit einem auf die Leinwand projizierten gezeichneten Dinosaurier, den er beispielsweise mit einem Apfel fütterte. Gertie gilt heute als erste Animationscharaktere mit einer eigenen Persönlichkeit, denn sie verhielt sich schüchtern und dickköpfig und war so emotional, dass Kritik an ihr rasch die Dinosauriertränen ins rollen brachte.18 In den Zwanziger Jahren betrat Otto Messmers Felix the Cat die Bühne. Es war die erste kommerzielle Animationsserie mit einem Hauptdarsteller, dem es an Persönlichkeit nicht mangelte.

Gertie the Dinosaur 	

Felix the Cat

Gertie the Dinosaur

Felix the Cat

Ab 1923 mischte sich Walt Disney zunehmend in das angehende Animationsgeschäft und verhalf ihm im westlichen Kulturkreis im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einem unglaublichen Boom. Der erste Mickey Mouse Film und zugleich der erste Animationsfilm mit Synchronton war Steamboat Willie im Jahr 1928. Es folgten weitere Produktionen wie Three Little Pigs und Snow White and the Seven Dwarfs, der erste abendfüllende Zeichentrickfilm. Dem folgten weitere Großproduktionen wie Pinocchio, Dumbo, Bambi, Fantasia, Alice in Wonderland, The Jungle Book und andere. Daneben wurden Serienhelden wie Popeye von Max Fleischer geboren. Bugs Bunny und Daffy Duck gaben sich in Looney Tunes und Merry Melodies von Warner Bros. die Ehre.19

Steamboat Willie Snow White and the Seven Dwarfs

Walt Disney: Steamboat Willie

Snow White and the Seven Dwarfs

Alice in Wonderland The Jungle Book

Alice in Wonderland

The Jungle Book

Im Zweiten Weltkrieg wurde auch der Zeichentrickfilm nicht verschont und diente als Propagandamittel. Private SNAFU (für: Situation Normal All Fucked Up) beispielsweise belehrt amerikanische Soldaten über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten, anderswo wird Bugs Bunny zum Jagdflieger. Das typische gezeichnete Feindbild Amerikas trägt entweder ein Bärtchen unter der Nase und bewegt sich im Stechschritt oder hat Schlitzaugen, große Zähne und gelbe Haut. Deutschland setzte sich dieser Zeichentrickattacke nicht zur wehr, wohl aber Japan, das beispielsweise auf Pearl Harbor schnell mit einer Animation reagierte, in der den eigenen Fliegerassen auffallend langnasige Soldaten zum Opfer fallen.20

Private SNAFU Momotarô Umi no Shinpei

Private SNAFU

Momotarô Umi no Shinpei
(Momotaro´s Divine Sea Warriors)

Nach dem Einschnitt durch die Kriegsjahre fand die Animation dann 1950 mit der neuesten technischen Errungenschaft, dem Fernseher, ein neues Medium und zugleich den Zugang zu den Wohnzimmern dieser Welt. Im Gegensatz zu der bis dahin als oberster Standard angesehenen Disney Animation wurde nun zunehmend auf schnelle und kostengünstigere Produktion gesetzt. Bewegungsabläufe und Formen wurden vereinfacht. Zeichner wurden künstlerischer und experimentierfreudiger und zeigten den Charme von visuell einfacheren Umsetzungen wie Yellow Submarine von Heinz Edelmann, Terry Gilliams Monty Python Animationen, Bruno Bozettos Signor Rossi oder Oswaldo Cavandolis Serie La Linea. Der Disney-Stil war für etwa 30 Jahre nicht mehr angesagt.21

Yellow Submarine The Meaning of Life

Yellow Submarine

Monty Python: The Meaning of Life

Signor Rossi La Linea

Signor Rossi

La Linea

Spätestens mit Who Framed Roger Rabbit und dann mit Toy Story von Pixar, und überhaupt seit der rasanten Entwicklung im Computerbereich und dem dadurch entstandenen 3D Boom, ist auch der Realismus à la Disney wieder aktuell. Erfolge wie Monster Inc. oder Ice Age scheinen auf eine rein durch 3D bestimmte Zukunft bei Großproduktionen im Animationsbereich hinzudeuten.

Who Framed Roger Rabbit Toy Story

Who Framed Roger Rabbit

Toy Story

Monster Inc. Ice Age

Monster Inc.

Ice Age

Dennoch gibt es noch die klassische Zeichentrickanimation, und auch diese ist glücklicherweise immer noch beliebt. Sen to Chihiro no Kamikakushi (Chihiros Reise ins Zauberland) des Japanischen Regisseurs Hayao Miyazaki kam 2002 in die Kinos und ist der erfolgreichste japanische Film aller Zeiten. Zugegeben, auch hier haben sich ein paar 3D-Szenen eingeschlichen, aber der Großteil der Animation ist handgezeichnet. Das vorherige Werk Miyazakis, Mononoke Hime (Prinzessin Mononoke), war 1997 der internationale Durchbruch des Regisseurs und kommt noch gänzlich ohne Computertechnik aus.

Mononoke Hime Sen to Chihiro no Kamikakushi

Mononoke Hime

Sen to Chihiro no Kamikakushi

Überhaupt ist Japan, was Zeichentrick anbelangt, neben den Vereinigten Staaten ganz vorne. In beiden Ländern hat sich die Animation aber unterschiedlich entwickelt. Ebenso wie die Comic-Kultur Japans, der Manga, hat auch der Animationsfilm einen anderen Stellenwert als in den USA. Comics und Animationen werden als Kunst angesehen22 und sind kulturell auch als ernsthafte Medien akzeptiert23. Es ist tatsächlich keine Seltenheit, zum Beispiel in der U-Bahn von Tokio, einen Geschäftsmann in Anzug und Krawatte zu sehen, der auf dem Weg zur Arbeit ein Manga Comic liest und sich auf den Zeichentrickfilm nach Feierabend freut. Die Bandbreite ist demnach auch recht groß. Wohingegen in Amerika Comic und Zeichentrick für Erwachsene eher eine Subkultur24 darstellen, deren bekanntester Vertreter wohl Robert Crumbs Fritz the Cat ist, stellen Erwachsene in Japan eine große Zielgruppe dar. Ich meine dabei nicht nur erotische oder pornografische Filme. Hotaru no Haka (Grave of the Fireflies) beispielsweise ist eine Literaturverfilmung des Regisseurs Isao Takahata und handelt von zwei Kindern, die in Japan während des zweiten Weltkriegs zu Waisen werden und auf sich alleine gestellt zu überleben versuchen.

Hotaru no Haka Fritz the Cat

Hotaru no Haka

Fritz the Cat

Neben den abendfüllenden Filmen spielen Kurzfilme und Serien im Animationsbereich nach wie vor eine große Rolle, und auch das Internet bietet einen neuen Lebensraum für diese Kunst. Auch hier ist das Spektrum sehr breit. Stilistisch geht das von experimentellen Arbeiten über animierte Strichmännchen bis zu fotorealistischen Meisterwerken. Inhaltlich gibt es Slapstick, die ihren Zweck erfüllt, wenn sie komisch ist, daneben politische Arbeiten, Musikvideos, sehr tiefsinnige Animationsfilme, etcetera. Meiner Meinung nach ist die Geschichte, die erzählt werden soll, wichtiger als die technische Umsetzung. Ein paar Strichmännchen können eine bessere Story erzählen, als »photorealistische Aliens«. Auch ob ich in dem Kurzfilm meine große Botschaft an die Welt vermitteln oder das Publikum zum Lachen zu bringen will, ist letztendlich eine persönliche Präferenz. Wichtig ist nur, das ich das Publikum nicht langweile, denn ein gelangweiltes Publikum verliere ich. Und dann hilft es nichts, sich über »diese Banausen« zu beschweren. Denn das Publikum hat recht.