i. Wer bin ich?

»Wir enthüllen uns nur in Extremen.«42

– Jean-Paul Sartre

Wenn es um Charaktere geht, und bevor man sich mit anderen identifiziert, schlage ich vor, wir fangen bei uns selbst an. Wir sind Charaktere. Und doch kennen wir uns häufig schlechter als wir denken. Beantworte mir, lieber Leser, bitte eine Frage: Wer bist Du?

Aufgabe

Danke. Üblicherweise identifiziert man sich über die Arbeit oder darüber, was man studiert, oder was man sonst so alles gemacht hat. Wenn man dieses Spiel in einer Gruppe spielt und bei jedem einzelnen direkt hinterher die anderen fragt, was denn alles hängengeblieben ist, reduziert sich das so auf zwei, drei Tatsachen. Das ist ziemlich wenig für ein ganzes Leben, nicht?43

Aber es steckt wesentlich mehr in uns. Wir haben uns entwickelt, wir haben unsere Vorlieben, Abneigungen und Eigenheiten, etcetera. Am meisten erfährt man über Charaktere, wenn sie sich an einem Wendepunkt befinden. Darum geht die nächste Aufgabe. Ich weiß, dass man nur ungern über sich redet oder allzu viel preis gibt, aber Du musst es ja keinem erzählen und ich verrate auch nichts. Also: Schreibe über einen Augenblick in Deinem Leben, der ein Wendepunkt war. Einer der Punkte, an denen man den einen oder den anderen Weg einschlägt, im großen oder im kleinen Stil. Je größer die zu treffende Entscheidung war, desto offensichtlicher kommt der Charakter heraus. Und desto unangenehmer ist es. Aber »Intuition funktioniert am besten, wenn wir uns unwohl fühlen«.44 »Mir fällt nichts ein!« gilt übrigens nicht. Jeder hat irgend so einen Punkt, auch wenn er relativ unbedeutend erscheint. Schreibe es ausführlich. Und bitte jetzt.

Aufgabe

Vielen Dank. Bezüglich des Textes folgen jetzt ein paar Fragen:

  1. Wer war der Protagonist der Geschichte, also der Held oder die Hauptperson?
  2. Was hast Du gesucht oder was hast Du versucht zu vermeiden? Was hast Du versucht zu gewinnen? Was ist der »Schatz«, den Du suchst? Warum suchst Du ihn? Und warum ist er wertvoll für Dich? Bitte konkret beantworten.
  3. »Es verlangt Mut, konkret zu werden.« Was bedeutet das für Dich? Warum benötigt es Mut? Erkläre es und gebe ein Beispiel.
  4. Was steht auf dem Spiel? Was geschieht in der Welt, wenn Du erfolglos bist? Was geschieht mit Dir in der Welt, wenn Du nicht bekommst, was Du willst?
  5. Sehe Dir die Antwort zu obiger Frage nochmals an und denke darüber nach. Die Frage lautet nun: Welche Auswirkungen hat das Versagen auf Dich, und zwar auf Dein inseitiges Ich, das mentale, emotionale oder spirituelle Ich? Bitte konkret.
  6. Bezüglich der Antwort auf Frage 5: Warum fürchtest Du das Versagen?
  7. In der Literatur wie im Leben sind Feinde all jene, die sich Dir auf Deiner Suche widersetzen. Feinde sind Menschen, die sich in den Weg stellen, die verhindern wollen, dass Du bekommst, was Du willst. Wir geraten in Konflikt mit ihnen, um unsere Ziele zu erreichen. Wer sind Deine Feinde in Deiner Geschichte? Es können einer oder mehrere sein. Benenne sie und erkläre, warum sie sich Dir entgegenstellen. Bitte konkret.
  8. In der Literatur wie im Leben sind Verbündete all jene, die Dir auf Deiner Suche helfen. Wer sind Deine Verbündeten in Deiner Geschichte? Benenne sie und erkläre, warum sie Dich unterstützen. Bitte konkret.45
Aufgabe

Der Sinn der Übung besteht darin, sich an einem realen Beispiel klar zu werden, was uns als Charaktere ausmacht. Wie reagieren wir, wenn wir in die Enge getrieben werden, wenn es heißt »du oder ich«, wenn wir eine Entscheidung treffen müssen, die den weiteren Verlauf unseres Lebens bestimmt, wenn wir Angst vor der Wahrheit haben, aber ohne die Wahrheit zu erfahren niemals zur Ruhe kommen, wenn wir etwas oder jemanden gewinnen oder nicht verlieren wollen, etcetera? Wir erfahren, was uns wirklich wichtig ist. Und selbst wenn wir nicht erreichen, was wir uns vorgenommen haben, gewinnen wir an Erfahrung, und in einer ähnlichen Situation stellen wir uns in Zukunft vielleicht besser an. Oder wir sind wie Koyote aus Roadrunner: wir lernen nie dazu, geben dafür aber auch nie auf. Das Beziehungsleben mancher Leute ist so aufgebaut. Welche Motivationen scheinen unsere Feinde und Verbündeten zu haben, dass sie sich uns in den Weg stellen oder uns unterstützen? Welche Auswirkungen hat es auf meine Umgebung, wenn ich die eine oder andere Richtung einschlage?

Der Kernpunkt ist aber: Was geschieht mit mir? Was ist meine Motivation? Hier belügen wir uns regelmäßig selbst. Wir reden uns immer ein, wir würden alles aus einem guten Grund tun, die Motivation ist positiv, moralisch wertvoll und dient dem Nutzen der Allgemeinheit. Aber das stimmt nicht immer. Die Gründe, warum wir etwas tun, können auch durchaus nicht so hoch und ehrbar sein. »Diese Elemente, die wegen ihrer negativen Assoziation oft unterdrückt werden, treiben unser Verhalten an und bringen uns dazu, auf Arten zu handeln, die unseren bewussten Glaubenssystemen oder unserem Selbstverständnis widersprechen könnten.«46 Wenn ich mich beispielsweise entschließe für eine Weile ins Ausland zu gehen, dann tue ich das nach außen hin, weil ich so aufgeschlossen und weltoffen bin, um Erfahrungen zu sammeln und um der Alltagsroutine zu entfliehen. Daran gibt es nichts auszusetzen. Aber vielleicht haue ich auch immer dann ab, wenn es ungemütlich wird, und stellen mich nicht den Widrigkeiten. Und vielleicht genieße ich auch insgeheim den Neid derer, die zurückgeblieben sind. Es ist schwierig und unangenehm, sich so etwas einzugestehen, aber in jedem von uns leben mehr Persönlichkeiten, als uns möglicherweise lieb ist. »Die Dinge, die Du Dir niemals vorstellen würdest, geben den größten Einblick in die Charaktere.«47 Und genau da wird es interessant.