ii. Was macht Charaktere interessant?

»Wir sind hauptsächlich daran interessiert, wer die Charaktere ist, seine oder ihre Einstellung und Denkprozesse. Wir finden heraus, wer eine Charaktere ist, indem wir ihn oder sie in einem Szenario handeln sehen. Diese Anordnung der Handlung nennt man Story.«48

– Chuck Jones

Wenn es darum geht, Geschichten zu erzählen, dann benötigt man fiktive Charaktere. Sie können, ja sollen sogar übertrieben handeln, aber zugleich müssen sie auch glaubhaft sein. Wie im vorherigen Kapitel bereits angesprochen, aber man kann es nicht oft genug sagen: »Wahrer Charakter wird in den Entscheidungen, die ein Menschliches Wesen unter Druck trifft, enthüllt – umso höher der Druck, umso größer die Enthüllung, umso wahrer liegt die Entscheidung bei der grundlegenden Natur des Charakters.«49 Wenn es um Leben und Tod geht, dann zeigen wir, wer wir sind. Das autobiografische Buch Die Mütze oder der Preis des Lebens50 des israelischen Autors Roman Frister handelt unter anderem davon, dass einem Jungen, der in einem Konzentrationslager gefangen ist, von einem Mithäftling die Mütze entwendet wird, nachdem er von diesem vergewaltigt wurde. Der Verlust der Mütze wird mit dem Tod bestraft. Der Junge steht nun vor der Wahl, ob er sich die Mütze eines anderen nimmt und diesen damit unschuldig in den Tod schickt, oder ob er selbst stirbt. Er entscheidet sich zu leben. Solche Entscheidungen fällen zu müssen sind die schlimmsten Erfahrungen, die man sich vorstellen kann. Im Augenblick der Entscheidung handeln wir aber intuitiv, auch wenn sie im Nachhinein ein Leben lang am Gewissen nagt. Die Situation »du oder ich« muss aber nicht um Leben oder Tod gehen, um zu erleben, wie wandlungsfähig Menschen sind.

Ich bin einmal Morgens noch vor der Öffnungszeit zum Aldi-Markt gegangen, da es ein günstiges Angebot gab. Solange der Vorrat reicht. Natürlich steht man nicht alleine vor der Türe. Man grüßt sich, plaudert ein wenig und bietet sich wegen des starken Regens gegenseitig an, den Regenschirm mitzubenutzen. Um halb neun aber geschieht etwas sonderbares. Wohl durch dieselbe Magie, die die automatische Schiebetür wie von Geisterhand öffnet, verwandeln sich die wartenden Menschen in Werwölfe. Die Schritte werden schneller, der Atem wird zum Hecheln und sie fallen auf ihre vier Läufe. Es wachsen ihnen langes verfilztes Fell und gefährliche Fangzähne. Doch das schlimmste sind die Augen: dieses grausame, wilde, erbarmungslose, dämonische Rot. Etwa drei Meter, nachdem sie den Laden betreten haben, rennen sie, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt sind, die Regalreihen auf und ab, auf der Suche, ihr Verlangen zu stillen. Neben den Kühlregalen bildet ihr Atem weiße Wolken. Manche der Kreaturen schließen sich zu Rudeln zusammen, die mit instinktiver Strategie vorgehen, um sich die Beute als erste zu sichern. Der Plan geht auf. Zuerst packen die Klauen zu. Gleichzeitig werden die Widersacher mit geifernden Fängen abgewehrt. Die Schwächsten gehen leer aus. Es ist ein grausames Schauspiel. An der Kasse verwandeln sich dann alle wieder in Menschen zurück. Einige haben bedruckte Kartons in der Hand, werfen mitleidige Blicke auf all jene, die keine bedruckten Kartons in der Hand halten und geben gute Ratschläge oder Beileidsbekundungen. Ich nehme noch eine Zeitung mit, die verrät, dass 92 Prozent der Bevölkerung der Meinung ist, wir leben in einem zivilisierten Land. Ist das nicht schön?

Das sind Charaktere in Extremsituationen. Als Geschichtenerzähler wollen wir sie aber entwickeln und nicht auf derart glückliche Zufälle warten. Es gibt verschiedene Methoden, um Charaktere zu erschaffen. Die einen liegen einem besser, die anderen schlechter. Die einfachste und risikoloseste ist, sich einfach eine fiktive Person auszudenken. Man kann sich wahlweise auch irgendeine fremde Person, die gerade in der Nähe ist, auswählen und deren Lebensgeschichte erfinden.51 Dazu fehlen jedoch noch ein paar Punkte, die in den nächsten Kapiteln bis Frankensteins Baukasten behandelt werden. Aber wir können auch jetzt schon etwas tun. Charaktere sind keine Kunstgegenstände, die irgendjemand in einen schweizer Banktresor gesperrt hat. Sie liegen sozusagen auf der Straße.

Die nächste Aufgabe ist: Belausche ein fremdes Gespräch, am besten mit einem Aufnahmegerät, dann ist die Spannung höher.52 Es gibt geeignetere und weniger geeignete Plätze. Interessant ist zum Beispiel ein Ort, an dem verschiedene soziale Stufen aufeinandertreffen. Das wären zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel. Ich war einmal in Melbourne und die Linie 57 erwies sich als eine wahre Goldgrube. Abends fährt sie die Leute, die von der Arbeit kommen, in die Außenbezirke und passiert dabei ein »Sozialbauviertel«. Nicht nur die Gespräche zwischen anderen Fahrgästen waren interessant, ich war auch selbst betroffen. Einmal wurde ich von einer schrulligen älteren Dame gefragt, ob ich nicht ihr Auto kaufen wolle, und obwohl ich kein Auto brauchte, weil ich nicht auf die Tram 57 verzichten wollte, wusste ich, dass das nicht ihre wahren Absichten sind. Ich wurde von einem Drogensüchtigen gefragt, ob er für mich einen Krankenwagen holen solle, ich sähe ja schrecklich aus, und wenn ich nur übernächtigt wäre, ein bisschen Speed würde mir schon wieder auf die Beine helfen, er habe da zufällig … kein Interesse? Na dann schönen Tag noch! Darauf wendete er sich dem Herrn gegenüber zu. Eine Frau stellte sich auf die Gleise und weigerte sich, wegzugehen, ohne einen Grund zu nennen. Als der Fahrer wütend wurde, waren die Passagiere auf der Seite der Frau. Hier gibt es interessante Typen und interessante Situationen. Auf diese Weise kann man John Vorhaus Sichtweise »Die Welt ist mein Zirkus« (siehe Kapitel Die Grundidee) als Inspirationsquelle nützen. Wenn nichts passiert, und wenn man es sich traut, kann man auch Situationen herausfordern. Wie wäre es damit: Blockiere so lange an einer grünen Ampel den Verkehr, bis ein Fahrer aussteigt und zu Dir kommt. Dann bleibt nur noch seine Reaktion abzuwarten. Vermutlich ist er wütend, aber vielleicht ist er auch hilfsbereit oder er ist der ehemals beste Freund aus dem Kindergarten, wer weiß? Verwirrung ist auch schön. Zum Beispiel jemanden, der einem auf der Straße begegnet, herzlich zu begrüßen, und so zu tun, als habe man sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Auch hier sind wieder alle Reaktionen möglich. Also nochmals die Aufgabe: Belausche ein fremdes Gespräch. Viel Spaß!

Aufgabe