iii. Die Dunkle Seite: wer noch so alles in uns steckt

»Die Augen geschlossen, rauschte es in meinem Kopf, als ob ein paar hundert Zwerge dabei wären, ihn auszufegen. Sie fegten und fegten. Keiner kam auf die Idee zusammenzukehren.«53

– Murakami Haruki

Wir alle haben äußere und innere Bedürfnisse. Die äußeren sind, was wir denken, das wir brauchen. Die inneren sind, was wir wirklich brauchen.54 Genauso haben wir äußere und innere Motivationen (siehe Wer bin ich?). Die äußeren sind, was wir denken, warum wir handeln. Die inneren sind, warum wir wirklich handeln. Diese inneren Bedürfnisse und Motivationen entstammen unseren inneren Persönlichkeiten. »Menschen haben für gewöhnlich wenig Kenntnis darüber, wie diese unbewussten Kräfte ihr Verhalten beeinflussen. Oft sind dies negative Elemente, die geleugnet oder rational erklärt werden. Psychologen nennen dies ›den Schatten‹ oder die ›dunkle Seite der Persönlichkeit‹.«55

Bei der nächsten Übung geht es darum, ebendiese dunkle Seite von uns zu entdecken. Es ist möglich, einige dieser Schatten hervorzulocken, und es ist erstaunlich, zu erleben, welche Persönlichkeiten in uns stecken, die wir dort niemals erwartet hätten. Wenn es gut läuft, kann man das Ergebnis als Drehbuchtext verwenden. Aber es verlangt einiges an Übung und Selbstüberwindung. Die Aufgabe hört sich dennoch einfach an. Sie lautet:

»Ich bin wütend!«

  1. Denke an etwas, worüber Du wütend bist.
  2. Nehme eine mindestens 30 Sekunden lange Schimpfkanonade auf. Wiederhole das dreimal.
  3. Höre Dir das ganze an.

Das ist alles. Jetzt noch ein paar Hinweise dazu: Die Aufnahmequalität ist völlig egal. Schneide nichts heraus oder zusammen. Über den Wutausbruch: Das, worüber Du wütend wirst, muss belanglos sein, und nicht etwas, worüber man sich zu recht aufregen könnte. Beispielsweise, dass das Duschwasser so schnell kalt wird, dass kein Klopapier mehr da ist, dicke Leute, dünne Leute, greise Autofahrer, Junkmail, Strafzettel, Raucher, Nichtraucher, Veganer, die Zeugen Jehovas, Technomusik, Rockmusik, Volksmusik, Großstädter, die Landbevölkerung, und, und, und… Es muss nicht politisch korrekt sein. Aber es muss belanglos sein. Nimm den erstbesten Grund, der Dir in den Sinn kommt. Worüber kannst Du Dich aufregen? Du solltest ein konkretes Bild vor Augen haben, einen Schnappschuss, zum Beispiel eine leere Rolle Klopapier oder einen bestimmten Strafzettel. Denke nicht darüber nach, weshalb Du das Thema vielleicht doch nicht nehmen solltest. Es geht darum, nicht zu filtern, was Du sagst. Es ist unwichtig, ob das, was Du sagst, Sinn ergibt. Lass es einfach raus! »Habe Mut – der Sinn der Übung besteht darin idiotisch auszusehen. Warum? Weil idiotische Charaktere interessante Charaktere sind.«56

Werde wirklich wütend. Das ist eine reine Übungssache. Es ist unangenehm, das Mikrofon einzuschalten und draufloszutoben, besonders, wenn die eigene Stimme zurückhallt oder man besonders dünne Wände hat und die Nachbarn sowieso schon nur mit vorgehaltener Hand über einen reden. Mir persönlich fällt es am leichtesten, wenn noch jemand im Raum ist, ein Gegenüber, das ich anschreien kann. Eine Freundin hat ihren Wutausbruch am liebsten im Stadtpark aufgenommen. Das ist natürlich auch interessant. Am Anfang ist man wahrscheinlich noch nicht richtig wütend, außer man ist ein Naturtalent. Aber wenn man mal angefangen hat zu reden, wird man immer mehr hineingezogen. Das wichtigste ist, nicht daran zu denken, wie Du auf andere Menschen wirkst. Wenn das nicht funktioniert, dann gehe irgendwohin, wo Dich kein Mensch hören kann. Und dann beginne zu reden. Es ist egal, wenn du Dich wiederholst und wiederholst, es ist nur wichtig, nie abzubrechen. Beginne so: »Ich hasse dies und das. Ich hasse dies und das wirklich.« Und dann lass es einfach raus. Sag, warum Du es hasst, gib alle Gründe, die Dir gerade in den Sinn kommen, warum du es verdammt noch mal hasst, hasst, hasst! Hör nicht auf zu reden. Wenn Du rauskommst oder Dir nichts mehr einfällt, dann rufe Dir wieder den Schnappschuss ins Gedächtnis. Dann mach weiter. Filtere nicht. Filtere nie! Filtern tötet den Charakter. Lass Dich mitreißen, lass Deinen Emotionen freien Lauf! Freie Assoziation! Beispielsweise: »Ich hasse Mick Jagger. Ich hasse Mick Jagger wirklich! Weil er denkt, er ist so toll und so reich und er ist so reich. Er ist so reich und er hat so viele Freundinnen, aber er ist ein abgemagerter Kotzbrocken aus England und er ist ein Zwerg und ich hasse Zwerge und seine Mutter war ein Pinguin aus dem Märchenland und Pinguine aus dem Märchenland kotzen mich wirklich an, weil sie so niedlich sind, und so süß, und weil sie so unglaublich stinken, ich möchte auf ihnen herumstampfen, auf diesen beschissenen süßen Pinguinen, herumstampfen und ihnen das Leben aus dem Leib quetschen! Tot, tot, tot, tooooot! Und sie werden bluten und schwitzen und überall ist Haut und ich werde durch die Lüfte schweben. Ich bin der König der Welt! Ich hasse ihn dort oben auf der Bühne, diesen Kotzbrocken! Er trägt eine Perücke und bohrt in der Nase und …« Sei spontan und emotional. Nachdem Du es dreimal aufgenommen hast, höre es Dir an. Wenn Du alles richtig gemacht hast, solltest Du entsetzt und zugleich amüsiert sein, Du solltest über Dich selbst lachen und es sollte Dich anwidern, so dass deine Meinung über Dich selbst auf den Nullpunkt sinkt. Du solltest der größte voreingenommene Idiot auf der Welt sein. Dann merke Dir ein paar der amüsanteren Stellen und mache das ganze noch zwei bis dreimal. Versuche, wieder einige der amüsanten Stellen aufzugreifen, aber wiederhole sie nicht, sondern bleibe spontan, beispielsweise »Ich bin mir sicher er schläft auch mit Pinguinen aus dem Märchenland, weil er verdorben ist! Er ist eine Gefahr für die Gesellschaft! Man sollte ihn hängen! Oben im Hotel mit all diesen Märchenland-Pinguin-Groupies! Er ist ein Tier! « Alles klar? OK! Dann bist jetzt Du an der Reihe.57

Aufgabe

Diese Vorgehensweise kann wirklich sehr hilfreich sein, um den Text für ein Drehbuch zu entwickeln. Das interessante ist, dass man, wenn man erst einmal in Rage ist und wirklich nicht filtert, vom ursprünglichen Grund abkommt und die Gedanken in völlig andere Richtungen gehen, die nicht vorhersehbar sind. Das wichtigste bei einer Geschichte ist, dass sie nicht vorhersehbar ist. Wenn das Publikum weiß, worauf es hinausläuft, habe ich es verloren. Der Text zu meiner ersten Animation Café Imperial ist auf die obige Art entstanden. Ich weiß nicht, woher die Sätze kommen, aber sie stammen von mir, von einer meiner »dunklen Seiten der Persönlichkeit«. Als ich mir meine erste Aufnahme des Kellners, eine der beiden Hauptpersonen in der Animation, angehört habe, habe ich von meinen eigenen Worten eine Gänsehaut bekommen. Es ist mir bewusst geworden: In mir, in jedem von uns, steckt irgendwo ein Psychopath.