iv. Stärken, Schwächen, die eigene Weltanschauung und die Bindung zum Publikum

»Ich möchte nicht etwas, das realistisch ist. Ich möchte etwas, das glaubhaft ist!«58

– Felix Hude

Charaktere müssen glaubhaft und beständig sein. Das heißt, sie sollten einen durchgängige Persönlichkeit haben, zugleich aber nicht zu Stereotypen werden, deren Verhalten absolut vorhersehbar ist.59 Ein draufgängerischer Abenteurer ohne weitere Eigenschaften genügt nicht. Indiana Jones and the Last Crusade zeigt einen Helden, der abenteuerlustig ist, eine Schlangenphobie hat und sich regelmäßig überschätzt. Er ist ein Macho und Angeber. Er lässt sich von niemand etwas sagen und widersetzt sich allem und jedem, außer seinem Vater, der ihn nach wie vor wie ein unmündiges Kind behandelt. Jener ist Professor. Er widmet sein Leben der Archäologie und übersieht in seinem Wissensdurst jegliche Gefahr. Dennoch ist er gewitzt genug, sich und andere aus den unlösbarsten Situationen mit spontanen Einfällen zu retten. Er liebt seinen Sohn, gibt es ihm gegenüber aber nie offen zu. Jener sehnt sich nach der Liebe und der Akzeptanz seines Vaters, würde dies aber ebenfalls niemals zugeben. Beide sind Dickschädel und bevorzugen es, eigene Fehler zu vertuschen, als einzugestehen. Junior und Senior sind vielschichtiger als stereotype Abenteurer und Professoren. Diese Stärken und Schwächen bauen Charaktere zu glaubhaften Persönlichkeiten aus und geben ihnen Menschlichkeit und Sympathie. Erst dann identifiziert sich das Publikum mit ihnen, ist an ihrem Erfolg interessiert und fiebert mit.

Schwächen helfen, eine emotionale Distanz zwischen Publikum und den Charakteren zu schaffen. Die Identifikation der Zuseher mit dem Protagonisten darf nicht so weit gehen, dass diesen der Spiegel vorgehalten wird. Das Publikum würde sich sehr unwohl fühlen, wenn es sich quasi selbst beobachten würde.60 Dies kann natürlich erwünscht sein, wenn man provozieren will, grundsätzlich aber sollte es vermieden werden. Wenn es sich um Komik handelt, können wir nur lachen, wenn wir das Geschehen aus sicherer Distanz betrachten. »Etwas ist nur komisch, wenn es ›dem anderen‹ zustößt, und Fehler an einer Charaktere bewirken, sie im Auge eines Lesers oder Betrachters zu diesem ›anderen‹ zu machen.«61 Bei den Simpsons sieht das Publikum nicht in das eigene Wohnzimmer. Homer hat eine ganze Reihe von Fehlern. Er ist einfältig, sieht Alkohol als »die Ursache und die Lösung aller Probleme« und kümmert sich nicht um seine Kinder, wenn er es irgendwie vermeiden kann. Er vergisst regelmäßig den Namen oder die Existenz seines Babys Maggie, er ist seiner kleinen Tochter Lisa geistig nicht im geringsten gewachsen, er würgt seinen Sohn Bart, wenn er wütend auf diesen ist, und tritt bei seiner Frau Marge gelegentlich so sehr ins Fettnäpfchen, dass er nicht selten kurz vor der Scheidung steht.

Auch gute Eigenschaften können zu Fehlern werden, wenn sie übertrieben werden. Ned Flanders, der überaus christliche Nachbar der Simpsons, hat nur gute Eigenschaften. Er ist stets freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit und höflich. Dies jedoch in einem Ausmaß, dass er blind gegenüber der Realität wird. Er geht davon aus, dass alle Menschen denken wie er. So mangelt es ihm an Misstrauen und er wird wegen seiner Gutgläubigkeit ausgenutzt. Ned kennt weder Ironie noch Sarkasmus und nimmt alles beim Wort. Seine übertriebenen positiven Charakterzüge wirken sich also negativ auf ihn aus und bringen gleichzeitig alle anderen auf die Palme, insbesondere seinen Nachbarn Homer Simpson.

Charakterschwächen können auch innere Konflikte auslösen (siehe Kapitel innerer Konflikt). Wir haben alle ein Bild davon, wie wir uns selbst sehen und wie wir von anderen gesehen werden möchten. Fehler können sich dieser Wunschvorstellung in den Weg stellen.62 Der Schauspieler Klaus Kinski sah sich selbst gerne als überaus naturverbunden an. Die Dreharbeiten zu Aguirre – Der Zorn Gottes fanden im peruanischen Urwald statt. Dort sprach Kinski davon, er wolle sich der Natur aussetzen und er fühle sich den Indianern aus Peru daher innerlich sehr nahe. In der ersten Nacht stellte sich heraus, dass er Regen und Moskitos hasste, so dass er in einem Tobsuchtsanfall in ein Hotel in der nahegelegensten Stadt abzog.63 Sein Problem war, dass er von sich das romantische Bild des Naturburschen hatte, der im Einklang mit der Natur lebt. Deren Widrigkeiten hatten in seinem egomanischen Weltbild allerdings keinen Platz.

Neben den Schwächen, die eine klare Trennung zwischen Publikum und den Figuren in einer Geschichte darstellen, benötigen Charaktere auch Stärken, um die Zuseher emotional an sich zu binden. Es handelt sich nicht um Stärken übernatürlicher Art, sondern um Eigenschaften, die Charaktere menschlich und gewissermaßen sympathisch erscheinen lassen. Dies ist notwendig, damit sich die Zuseher mit dem Protagonisten identifizieren und so auch die Motivation verstehen, warum er sein Ziel erreichen will. Das Publikum muss die Erfahrung einer Charaktere teilen, um emotional reagieren zu können. Etwas bringt uns nur zum Fürchten, Lachen, Weinen, etcetera, wenn wir die Situation nachvollziehen können. Das klassischste Thema dazu ist die Liebe im Sinne von Zuneigung. Wir alle wollen geliebt werden, keiner möchte alleine sein und jeder fürchtet sich davor, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es ist ein universales Bedürfnis. Daher ist es kein Wunder, dass sich so viele Geschichten an irgendeinem Punkt mit diesem Thema befassen. Zu Beginn von Finding Nemo verliert ein Fisch sein Weibchen und all seine Nachkömmlinge an einen Raubfisch, mit Ausnahme seines einzigen Sohnes, Nemo. Als dieser dann von Tauchern entführt wird, ist der Vater alleine auf der Welt. Er hat all jene verloren, die er geliebt hatte. Nemo, das halbwaise Kind, wurde auch noch seinem Vater entrissen und ist auf sich gestellt. Das Publikum kann die Situation emotional nachvollziehen. Sei es Nemo, der Fisch, Bambi, das Reh, E.T., der Außerirdische, Chihiro, das kleine Mädchen, oder Orpheus, der Ehemann. Sie alle leiden am Verlust ihrer Lieben und wir sind auf ihrer Seite.

Die Menschlichkeit einer Charaktere ist die Brücke, die wir benötigen, um uns mit ihr zu identifizieren.64 Kehren wir zu Homer Simpson zurück, der zuvor nur schlechte Eigenschaften abbekommen hat. Natürlich ist er einfältig und nicht besonders hell, aber er weiß das auch und gesteht es sich ein. Wenn er Marges Geburtstag vergisst, dann würde er, sobald er darauf gekommen ist, sein Leben riskieren, um ein Geschenk für sie zu besorgen. Er tut alles aus der Überzeugung heraus, richtig zu handeln, auch wenn er damit aus versehen eine Katastrophe auslöst. Es ist nie böswillig. Wenn er Bart würgt, dann ist das sein impulsiver Charakter. Er nimmt sich Kritik sehr zu Herzen und besteht nicht darauf, Recht zu haben, da er sowieso immer die schlechteren Argumente hat.